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Relevanz in Samt und Seide

Ein Debattenbeitrag von Alexander von Nell

Viele Akteur*innen haben sich jüngst mit ihren Perspektiven zu Wort gemeldet, ihrer Wut, ihrer Verzweiflung und ihrem Unverständnis darüber Luft gemacht, dass analoge Veranstaltungen im November wieder nicht möglich sind. Hier werden existenzielle Sorgen geäußert, mit denen wir uns in Deutschland – glücklicher Weise – über viele Jahre nicht auseinandersetzen mussten. Und das gleich auf mehreren Ebenen, denn es gilt nicht nur der finanziellen, sondern gleich auch der künstlerischen Existenz. Antworten auf die nun drängende Frage nach der Verortung von Kultur in der Gesellschaft zu finden muss nun unsere Aufgabe sein.

An Kulturorten sind kluge, charismatische Menschen involviert, da spricht der Präsident des Bühnenvereins, Ulrich Khuon, von „Orten des lustvollen Lernens“, Udo Lindenberg platziert sich und seine Kolleg*innen „oben auf dem Olymp der großen Künste“ in Nachbarschaft zu „den großen Erfindern und edlen und durchgeknallten Gottheiten“, die Wissenschaft attestiert musischer Bildung entscheidende, positive Einflüsse auf die (früh)kindliche Entwicklung und die Interessenverbände können Besucher- und Umsatzzahlen der Kultur- und Kreativindustrie mit vielen Nullen herunterbeten: Mehr live-Zuschauer als die Fußball-Bundesliga! Mehr Beschäftigte als die Autoindustrie! 3,1% des Bruttoinlandsprodukts! Politiker*innen nehmen sie wahlweise als Heilmittel oder als Stachel im Fleisch der Gesellschaft in die Verantwortung – und alle zusammen tragen sie stolz den Schild der Relevanz vor sich her. Das können sie gut, inszenieren haben sie nämlich gelernt!

Aber was sagt uns diese Relevanz eigentlich? Ist das nun Selbstzweck und wird einfach dadurch eingelöst, dass man die Behauptung wieder und wieder wiederholt? Durch und für wen wird sie fassbar? Die Freiheit von Kunst, Meinung und Wissenschaft, wird ganz oben in unserer Verfassung garantiert, aber ist Freiheit dann auch gleich Relevanz? Immerhin, durch die Freiheit der künstlerischen und wissenschaftlichen Produktion kann im besten Fall ein breiter gesellschaftlicher Austausch, können Reibung und Diskurs entstehen. Im schlimmsten Fall aber auch einfach nur ein von einem kleinen Kreis Eingeweihter gelesener Verriss im Feuilleton.

Aber ist Kunst wirklich gleichzusetzen mit Kultur? Und muss es eigentlich gelingen, die so vielfältige kulturelle Produktion „von Barenboim bis zur griechischen Volkstanzgruppe“, wie sie der Chansonnier Pigor pointiert zusammenführt, über einen Kamm zu scheren? Fakt ist, Folklore ist genauso wie avanciertes Musiktheater, gastronomisches Angebot, soziokulturelles Zentrum, Clubnächte und Museumsbetrieb Teil der „Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte“, die eine Gesellschaft kennzeichnen und damit UNESCO-geprüft: Kultur. 

Und Kultur wiederum kann – aber muss nicht – Teil von Kommerz sein. Schwierig wird es dann, wenn die Bürger*innen zu bloßen Sockenkäufer*innen reduziert werden und die Kultur (als schöner Freizeitvertreib der besseren Zeiten) gegen den Kommerz (der uns auch in schlechten Zeiten die wirtschaftliche Existenz sichert) ausgespielt wird – Konsumtempel geöffnet bleiben, Kulturoasen aber eben nicht…

Letztlich müssen Antworten auf die Frage her, warum Kultur im politischen Stimmengewirr ihre Trümpfe nicht ausspielen kann, im Rückzugsgefecht eher mit der Macht der Zahlen argumentiert („Mehr Live-Besucher als die Fußballbundesliga“, „mehr Umsatz, als die Autoindustrie“…) und damit gleich selbst in die verwertungslogische Falle des „höher, schneller, weiter“ tritt… Und wenn das auch nicht mehr hilft noch nach dem hohlen Strohhalm der Relevanzbehauptung greift. Denn aus dieser Position ist es einfach nur schmerzhaft der smarten Industrielobbyistin im gut gebügelten Business-Kostüm zuzusehen, wie sie an einem vorbeihuscht oder dem österreichischen Bundeskanzler kopfschüttelnd zuzuhören, wenn er alle potentielle Veranstaltungsbesucher*innen kurzerhand als „kulturverliebt“ abbügelt.

Wenn es gelingen soll Kultur in ihrer Vielfalt als „Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte“ (ja, kennen wir schon, das ist die UNESCO-Definition) im politischen und gesellschaftlichen Diskurs zu verankern und sie dadurch auch in herausfordernden, ernüchternden, frustrierenden Zeiten nicht zu canceln sondern zu feiern, müssen wir Gelingensbedingungen aufzeigen, wie wir im analogen und digitalen Raum weiter musizieren, genießen, feiern, kreativ sein können und gleichzeitig die Maßnahmen zur unumgänglichen und gesellschaftlich gebotenen sozialen Distanzierung einzuhalten. Wir wollen also nicht die Relevanz behaupten, sondern zeigen: Wir sind für Euch da! Wir schaffen (auch zur Zeit der sozialen Distanz) Räume zur Begegnung mit dem Kern des Menschseins! In der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen haben wir die Chance, uns als Gesellschaft zusammen zu finden! Wir wollen Kultureinrichtungen als soziale Räume erlebbar machen, über den häufig nur gefühlt hohen Tellerrand schauen und genre- und spartenübergreifend Allianzen bilden.

Denn auch das haben wir als Kulturschaffende gelernt: Flexibel und widerstandsfähig zu sein.

Alexander von Nell ist seit dem 1. Oktober 2019 Teil der Geschäftsführung des Netzwerk Junge Ohren. Nach einem Studium der Musikwissenschaften und Germanistik war er in verschiedenen Positionen beim Deutschen Musikrat, als Künstleragent im internationalen Opern- und Konzertbetrieb sowie für das Ensemble Collegium Novum Zürich tätig. Er ist Absolvent des postgradualen Kulturmanagement-Studiengangs der Universität Zürich und Mitgründer und Partner des Thinktanks für Kulturberatung modul33. Als Kulturreferent des Österreichischen Kulturforums Berlin und als Kulturattaché an der Kanadischen Botschaft setzte er sich für den internationalen Kulturaustausch ein. Von November 2018 leitete Alexander von Nell den Bereich Consulting des Netzwerk Junge Ohren und war Ansprechpartner für alle Inhouse-Schulungen für Musikinstitutionen und Kultureinrichtungen sowie Fragen des (diversitätsorientierten) Change Managements.

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