Best of #11 "Wirkung!"

Musikleben am Puls der Gesellschaft gestalten

Das Gespräch führte Julia Jakob für die Ausgabe Januar/Februar 2023 des Magazins von Kultur Management Network


Liebe Katharina, lieber Alexander, das NJO hat 2022 sein 15-jähriges Jubiläum gefeiert und damit auch die Entwicklungen in der Musikvermittlung innerhalb dieser Zeit. Worauf blickt ihr besonders gern zurück?

Katharina von Radowitz: Als ich vor 15 Jahren mit der ersten Geschäftsführerin des NJO dieses als Netzwerk aufgebaut habe, beschäftigte uns die Frage: Wie schafft man gute Formate, die Kindern und Jugendlichen positive Erfahrungen und Erlebnisse im Zusammenhang mit Musik ermöglichen? In den vergangenen 15 Jahren hat sich dieser Fokus stark erweitert: Heute fragen wir, wie es gelingen kann, Musik an den Puls der Gesellschaft zu rücken. Das haben wir beim NJO auch im Leitbild aufgenommen, als Alexander und ich im Oktober 2019 gemeinsam die Geschäftsführung übernommen haben. Musikvermittlung begreifen wir als eine Haltung, die entsprechende Programme, Angebote sowie Strategien generationsübergreifend, inklusiv, interdisziplinär und transkulturell denkt. Diese muss sowohl zum künstlerischen Selbstverständnis als auch zur DNA eines Hauses gehören, wenn man sich in der Gesellschaft und im gesellschaftlichen Gespräch halten will. Das bildet für mich auch ab, wohin sich die Musikvermittlung in den vergangenen 15 Jahren bewegt hat: Es geht darum, Häuser, Einrichtungen und Praxis zu öffnen, um möglichst viele Anschlüsse herzustellen. Und das sind schon lange nicht mehr nur Kinder und Jugendliche einer bestimmten sozialen Schicht.

Alexander von Nell: Das erachte ich ebenfalls als die wichtigste Entwicklung: Musikvermittlung ist nicht Mittel zum Zweck, um in 20 Jahren noch Abos verkaufen zu können. Vielmehr steht die heutige Gesellschaft in ihrer diversen Verfasstheit im Fokus. Hier stimmt also die marketingorientierte Argumentationslogik zukünftiger Einnahmen für den Konzertbetrieb nicht (mehr), was insbesondere die Pandemie beschleunigt hat. Stattdessen muss der Musikbetrieb über das bestehende Konzertritual hinausdenken, um musikalische Begegnungen zu schaffen. Das gelingt etwa durch partizipative oder inklusive Angebote, die Eroberung neuer Räume und ungewöhnliche Interaktionen – alles grundlegendes Handwerkszeug der Musikvermittlung. Gleichzeitig muss für mich klarer gemacht werden, dass Musik als Kunstform in sich zweckfrei ist und nicht in Dienst genommen werden darf für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Auch dieser Punkt ist in den vergangenen beiden Jahren deutlicher geworden, daran arbeitet die Musikvermittlung aber bereits länger.

Musikvermittlung ist nicht Mittel zum Zweck, um in 20 Jahren noch Abos verkaufen zu können. Vielmehr steht die heutige Gesellschaft in ihrer diversen Verfasstheit im Fokus.

Alexander von Nell

KvR: Damit rückt also die generelle Rolle von Musik viel stärker in den Fokus. Denn immer, wenn bisher gesagt wurde: „Wir vermitteln Musik“, implizierte das: „Wir wissen, was Musik ist und wie diese geht“, und dass das Konzert als bestimmte Form damit einhergeht. Dadurch, dass die Musikvermittlung in den ersten beiden Pandemiejahren stärker ins Digitale gerückt ist, ließ sich auch die Logik von Interaktion neu betrachten: Direktes Feedback und Austausch, aber auch dezentrales Zusammenarbeiten sind Ideen, die sich auch auf die Musikvermittlung ausgewirkt haben. Da geht es um Fragen von Augenhöhe: Sind wir nur die Sender:innen, die bestimmte Adressat:innen einkreisen und als Zielgruppe ausmachen? Definieren also wir, wer das Publikum ist, und sprechen dieses gezielt an? Oder öffnen wir einen Raum, in dem ein Miteinander durch und mit der Musik entsteht? Einen Raum, in dem Dinge ausgehandelt werden, die auch außerhalb von musikalischen Institutionen die Gesellschaft betreffen? Es geht hier also um eine kritische Auseinandersetzung mit der Deutungsmacht. Viele
Akteur:innen haben gerade in den letzten Jahren gelernt, dass sich diese Kräfteverhältnisse verändern müssen, wenn Musik und Musikvermittlung anschlussfähig bleiben sollen. Da gehört auch Mut dazu.

Mit der Jungen Norddeutschen Philharmonie, dem Stegreif Orchester, dem Ensemble Reflektor, dem Orchester im Treppenhaus oder auch dem Kammerorchester Frankfurt haben sich einige Orchesterprojekte ent- wickelt, die viel mit meiner Idee von Musikvermittlung zu tun haben. Denn mit ihren Konzert- und Veranstaltungsformaten ermöglichen sie viele Anschlüsse auf ganz unterschiedlichen Ebenen. In den allermeisten Fällen haben diese Akteurinnen dabei nicht explizit von Musikvermittlung gesprochen. Das Orchester im Treppenhaus hat beispielsweise jetzt erst über ein Förderprogramm eine Musikvermittlungsstelle eingerichtet. Das ist insofern spannend, da Musikvermittlung von Anfang an in deren Selbstverständnis angelegt war. In diese Richtung sollte es für mich auch in Zukunft gehen: „Musikvermittlung“ sollte im Selbstverständnis der jeweiligen Klangkörper und Einrichtungen verankert sein und die Basis für das künstlerische Schaffen bilden.

„Musikvermittlung“ sollte im Selbstverständnis der jeweiligen Klangkörper und Einrichtungen verankert sein und die Basis für das künstlerische Schaffen bilden.

Katharina von Radowitz

Im Rahmen eures Jubiläums habt ihr eine Denkwerkstatt veranstaltet, zu der ihr verschiedene Expertinnen und Praktikerinnen aus dem Musikbetrieb eingeladen habt, um gemeinsam die Potenziale einer gesellschaftsnahen musikalischen Praxis auszuloten und auch den zukünftigen Wirkungskreis des NJO zu skizzieren. Zu welchen Erkenntnissen seid ihr dabei gekommen?


KvR: Diese Denkwerkstatt brachte Menschen aus sehr unterschiedlichen Sphären und Funktionen zusammen, denn die Idee war, dass auch wir uns immer als Lernende sehen und uns an dem entlang entwickeln wollen, was an der Schnittstelle zwischen Kulturbetrieb und Gesellschaft passiert. Eine wesentliche Erkenntnis aus der Denkwerkstatt ist, dass es total gut
tut, sich so offen zu zeigen und mit allen Menschen, für die das NJO relevant ist oder relevant sein will, entsprechende Produkte zu entwickeln, um die Musik und ihre Vermittlung an den Puls der Zeit zu bringen. In Zukunft werden wir dieser Reflexion mehr Raum geben, auch im Wortsinne: als Ort, um zusammenzukommen, zu kreieren, zu „spinnen“ und auf diese Weise gemeinsam weiterzukommen. Vorausgesetzt natürlich, wir bekommen das finanziell gestemmt.


AvN: Einen solchen Raum wünschen wir uns auch, um Musikvermittlung als Querschnittsthema zu betrachten und die Bedeutung des Musiklebens in der Gesellschaft zu zeigen sowie zu ermöglichen. Dazu braucht es regelmäßige Austauschmöglichkeiten, indem unterschiedliche Akteur:innen aufeinandertreffen und ihre Ideen miteinander teilen und weiterentwickeln. Danach sehnen sich auch die Teilnehmenden unserer Denkwerkstatt, was
ich ebenfalls als wichtige Erkenntnis dieser Veranstaltung sehe.

Wir wünschen uns einen Raum, um Musikvermittlung als Querschnittsthema zu betrachten und die Bedeutung des Musiklebens in der Gesellschaft zu zeigen sowie zu ermöglichen.

Alexander von Nell

Um Musik am Puls der Gesellschaft zu gestalten und auch auf allen Ebenen des Musikbetriebs zu verankern, seht ihr Diversität, transkulturelle Öffnung und Inklusion als zentrale Faktoren. Wo steht der Musikbetrieb an dieser Stelle bisher? Und wohin müsste er sich noch entwickeln, damit das in der Umsetzung gelingt?

KvR: Der Bereich Diversität und Inklusion scheitert im klassischen Musikbetrieb derzeit an Parallelstrukturen: Es gibt eine breite Szene von Menschen, die mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen musizieren und Instrumente spielen, die im klassisch-westlichen Kanon nicht vorkommen. Zwar versucht der klassische Musikbetrieb, sich immer wieder zu öffnen und lädt entsprechend ein. Diese Einladungen kommen aber mitunter nicht bei den Empfänger:innen an, weil vielleicht Wordings verkehrt sind oder Netzwerke nicht zueinander finden. Da braucht es noch viel Übersetzungsleistung sowie Schleusen, in denen sich auch Themen, Fragen und Menschen neu zusammenfinden und überlegen können: Welche Wege gibt es, um gemeinsam Musikkultur weiterzuentwickeln?

AvN: Im Bereich Transkultur gibt es beispielsweise das Ensemble Colourage, das sich unter dem Dach der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinand-Pfalz gegründet hat.In diesem musizieren Musiker:innen aus klassisch-westlichen Klangkörpern mit Musiker:innen aus Maqam-basierten Musiktraditionen aus der Türkei oder dem Nahen und Mittleren Osten.
Wir haben 2022 ein „Forum Transkulturelle Perspektiven“ initiiert, in dem wir ganz unterschiedliche Initiativen und Akteur:innen in Kontakt gebracht haben. Dadurch ist auch deutlich geworden, dass die gelingende Zusammenarbeit zwischen institutionellen und freien Akteurinnen sehr viel Respekt für unterschiedliche Arbeitsweisen erfordert und den unbedingten Willen zu einer gemeinschaftlichen Arbeit auf Augenhöhe.

KvR: Ein wichtiger Schlüssel für die Arbeit des NJO liegt daher für mich darin, empathisch und bescheiden zu sein. Wir müssen nicht für alle Themen die Expert:innen sein und das meiste Wissen an andere vermitteln. Entscheidender ist der Kontakt zu Organisationen und Akteur:innen, die bereits bestimmte Themen professionell besetzen. Beim Fachtag „I can
Handel this!“ zum Thema Technologie für Kulturelle Bildung hatten wir beispielsweise Vertreter:innen von EUCREA dabei, dem Dachverband zum Thema Kunst und Behinderung für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Einer der Referentinnen hat etwa im Vorgespräch geschildert, dass die Streamingangebote während der Pandemie für ihn als Rollstuhlfahrer optimal waren, weil er so vieles wahrnehmen konnte, ohne sich Gedanken über die Barrierefreiheit der Häuser zu machen. Das sind mitunter handfeste Themen, die im Moment noch verhindern, dass neue Communities sich an den Musikbetrieb anschließen. Gleichzeitig dürfen Streamingangebote nicht bedeuten, dass sich die Einrichtungen nicht weiter darum bemühen, Barrieren im Analogen abzubauen. All diese Fragen zu stellen und in unterschiedlichen Kontexten zu diskutieren sowie pragmatische und umsetzbare Lösungen für alle zu finden, damit werden und müssen wir uns in den nächsten Jahren weiter beschäftigen.

Wir müssen als NJO nicht für alle Themen die Expertinnen sein und das meiste Wissen an andere vermitteln. Entschei- dender ist der Kontakt zu Organisationen und Akteur:innen,
die bereits bestimmte Themen professionell besetzen.

Katharina von Radowitz


AvN: Ein wichtiger Faktor ist dabei: Es einfach zu machen, anstatt die
Lösung von Problemen aufs System zu schieben. Mangelnder Musikuntericht, Denkmalschutz oder Probleme mit dem Bauamt dürfen nicht als Ausreden genutzt werden, um die Lösungen zu externalisieren. Stattdessen müssen und können die Einrichtungen kleine, basale Schritte machen. So haben wir beim Fachtag „I can Handel this!“ vielversprechende Experimente gesehen, um beispielsweise Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen oder Behinderungen das Musizieren zu ermöglichen. Solche Entwicklungen gilt es zu beobachten – und ihnen eine Stimme zu geben.

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