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Vielfalt.Verantwortung.Vision. Musikschulen zwischen Anspruch und Aushalten
Es war ein frühsommerlicher Tag Ende der 90er-Jahre, an dem ich mit meiner Mutter zum ersten Schnupperunterricht in der Städtischen Musikschule meiner Heimatstadt ging. Endlich durfte ich Violine lernen! Jenes Instrument, in das ich mich bereits im Alter von drei Jahren beim Instrumentenkarussell in der Musikalischen Früherziehung verliebt hatte – und meine Eltern seither unnachgiebig darum angebettelt hatte, mich zum Unterricht anzumelden. Kurz vor meinem sechsten Geburtstag betrat ich schließlich die alte Villa, aus der verschiedenste Klänge drangen – ein Ort, der mich über Jahre hinweg prägte.
Was mir damals selbstverständlich erschien, ist heute vielerorts ein zu verteidigendes Gut: musikalische Bildung, zugänglich für alle. Dabei lässt sich das Recht von Kindern auf Kultur klar aus einer Reihe von Artikeln der UN-Kinderrechtskonvention ableiten, wie etwa dem Recht auf Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben, dem Recht auf freies Spiel, dem Recht auf Bildung sowie dem Recht auf kulturelle Identität (vgl. Meergans 2021). Rechte, die durch die Musikschulen eingelöst werden können: Mit knapp 1,5 Millionen Schüler:innen deutschlandweit gehören sie zu den größten kulturellen Bildungseinrichtungen (vgl. VdM 2023). Musikschulen sind aber nicht nur Orte des Instrumentalunterrichts. Sie sind soziale Räume, Orte der Begegnung, kulturelle Möglichkeitsräume – dritte Orte. Isabella Schreml leitet das servicezentrum musikschulen (smz) in Berlin. Die 2023 gegründete Einrichtung unterstützt die zwölf bezirklichen Musikschulen der Hauptstadt operativ. Schreml unterstreicht die Bedeutung von Musikschulen als zentrale Orte kultureller Teilhabe mit gesetzlich verankertem Bildungsauftrag. Neben der Heranführung an Musik, der Persönlichkeitsentwicklung und der Förderung von Begabungen tragen sie zur Bereicherung des kommunalen Lebens bei. All das sei nicht nur wünschenswert – sondern als Grundrecht auf kulturelle Teilhabe aller Menschen in Art. 27, Abs.1 der UN-Menschenrechtskonvention begründet und in Berlin sogar im Schulgesetz verankert.
Und nicht zuletzt sind wir damit erneut bei den universell gültigen (!) Kinderrechten: Sie verleihen Kindern und Jugendlichen einen Machtanspruch in Kunst und Kultur. Musikschulen bieten wertvolle Räume, diesen Anspruch durch aktives Musizieren einzulösen, Selbstwert zu erfahren und Selbstwirksamkeit zu entfalten – allesamt essenzielle Grundsteine für eine starke Demokratie. Darin sieht auch Friedrich-Koh Dolge, Bundesvorsitzender des Verbands deutscher Musikschulen (VdM), eine besondere Wirkmacht von Musikschulen. Musik als solche sei ohne Musikpädagogik nicht in der Lage, Demokratiebildung zu betreiben. Es bedarf einer Einrichtung „Musikschule“, um Gesellschaft durch und mit der Musik zu gestalten.
Diesen Gedanken aufgreifend blicken Katharina von Radowitz und Alexander von Nell, Geschäftsführung NJO, besonders auf das transformative Potenzial von Musikschulen angesichts einer vielfältigen Gesellschaft im Wandel. Musikschulen bringen Menschen über musikalische Praxis zusammen – nicht nur als Lernende, sondern auch als Publikum. Vielerorts sind die Musikschulen die einzig verbliebenen Konzertveranstalter mit einem umfangreichen und vielfältigen Angebot. In Zeiten, in denen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt mehr denn je gekämpft werden muss, kommt solchen offenen Orten eine unschätzbare Bedeutung zu, weiß auch Norbert Koop, Leiter der Musikschule Bochum. Die milieuübergreifende Arbeit von Musikschulen sei zentral, um nicht nur „bildungsnahe, sozial besser gestellte Menschen“ zu erreichen. Studien belegen, dass außerschulische musikalische Bildung eine breitere Bevölkerung zu erreichen vermag als viele andere kulturelle Angebote. Musikschulen kommt somit eine Schlüsselrolle dabei zu, möglichst vielen Menschen kulturelle Teilhabe zu ermöglichen (vgl. u.a. Rottinghaus & Tewes-Schünzel 2024).
Die Musikschule Bochum hat sich diesem Auftrag seit Jahrzehnten verschrieben und versteht sich als eine Institution für alle in Bochum lebenden Menschen. Sie kann auf einen diversitätsorientierten Entwicklungsprozess verweisen und hat z.B. eine Broschüre zu „Rassismuskritischer Musikpädagogik“ publiziert, in der sie ihre Erfahrungen aufbereitet. Für Koop sind Reichweite und Reputation grundlegend für die Relevanz als Institution. Eine Musikschule wirke in die Breite der Gesellschaft nicht allein durch die Anzahl ihrer Schüler:innen, sondern auch durch deren Vielfalt. So entstehe nicht nur Präsenz, sondern vor allem politische Anschlussfähigkeit.
In Ludwigshafen, einer Stadt, in der über die Hälfte der Bevölkerung eine internationale Biografie hat, betrachtet der Intendant der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz (DSP), Beat Fehlmann, musikalische Bildung als Brücke für gesellschaftliche Verständigung. Musikschulen können diese Brücke begehbar machen, wenn sie mehr sind als Orte des Einzelunterrichts. Fehlmann plädiert deshalb für ein über technische Perfektion hinaus erweitertes Verständnis von musikalischer Bildung, um soziale Wirklichkeit abzubilden.
Hier wirken Orchester und Musikschule als zentrale musikalische Player in der Stadtgesellschaft synergetisch zusammen, seit diesem Jahr besiegelt durch eine tutti pro-Orchesterpatenschaft. Angela Bauer, Leiterin der Städtischen Musikschule Ludwigshafen, sieht die Vielfalt der Stadt in der Realität ihrer Musikschule bereits gespiegelt, an der Kinder und Jugendliche unterschiedlichster kultureller Hintergründe musizieren. Dies sichtbar zu machen und in Programm, Repertoire und Personal weiterzuentwickeln, sieht sie als ihren Auftrag an.
Den genannten Ansprüchen und mitunter ungenutzten Potenzialen steht jedoch der erhebliche Anpassungsdruck entgegen, dem sich die öffentliche Musikschullandschaft ausgesetzt sieht: Finanzierungsfragen limitieren das Angebot, Lehrkräftemangel und unsichere Arbeitsbedingungen (ab S. 20) stellen in wachsendem Maße die Qualität und Quantität des Unterrichts infrage. Zugangsgerechtigkeit bleibt angesichts sozialer Ungleichheiten und regionaler Unterschiede ein zentrales Leitmotiv. Verschärft wird diese Situation durch das sogenannte Herrenberg-Urteil, mit dem das Bundessozialgericht 2022 die Beschäftigung von Honorarkräften an öffentlichen Musikschulen als rechtswidrig einstufte. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Honorarverträge bis 2026 in sozialversicherungspflichtige Anstellungsverhältnisse zu überführen. So begrüßenswert die verbesserte soziale Absicherung der betroffenen Lehrkräfte ist, bringt die Maßnahme für viele Einrichtungen und Träger enorme finanzielle Belastungen mit sich. Denn fast die Hälfte aller an Musikschulen Lehrenden arbeiten bislang auf Honorarbasis (vgl. Dartsch 2024).
Musikschulen sind als Teil der freiwilligen Leistungen in Zeiten schrumpfender und zugleich hoch belasteter kommunaler Haushalte in einer schwachen Position. Das föderale System macht an dieser Stelle die Übersichtlichkeit nicht leichter. Jeder Fall muss einzeln geprüft werden und jede Kommune muss für sich eine Antwort auf die Frage finden, wie die nötigen Veränderungen rechtlich und finanziell realisierbar werden. Die Folgen der Entscheidung des Bundessozialgerichts beschäftige nun insbesondere Kommunen, die einen hohen Anteil von Honorarkräften im Musikschulkollegium haben, analysiert Isabella Schreml. Gleichwohl kann sie in diesen strukturellen Veränderungen auch eine Aufwertung des Berufsbildes Musikschullehrkraft und ein Zeichen der Wertschätzung für die Menschen entdecken, die diesen Beruf ausüben.
Das Urteil wirke also tiefgreifend in die Musikschulwelt hinein und werde sie nachhaltig prägen.
Unter diesen Bedingungen ist zu befürchten, dass die Last vor allem auf die Lehrkräfte und die Bürger:innen abgewälzt wird. Norbert Koop berichtet, dass vielerorts Entgelte bereits erhöht oder Angebote reduziert werden mussten. Friedrich-Koh Dolge verweist in diesem Zusammenhang auf das Problem der musikalischen Bildungsungerechtigkeit, die schon jetzt stark vom Wohnort abhänge. So koste eine Dreiviertelstunde Einzelunterricht in Nordostdeutschland etwa 375 Euro jährlich – am Starnberger See über 2.100 Euro (vgl. hierzu auch Dartsch 2024). Der Zugang zu musikalischer Bildung bleibe damit oft eine Frage des Geldbeutels.
Damit für die (Um-)Verteilung der finanziellen Last nicht die Musikschüler:innen die Leidtragenden sind, hat der Landesverband der Musikschulen in Schleswig-Holstein beispielhaft reagiert: Dort wären 8.000 Schüler:innen betroffen gewesen, wenn das Angebot der musikalischen Bildung um knapp 20% geschrumpft wäre, wie Dr. Rhea Richter berichtet. Als Geschäftsführerin des Landesverbands hat sie sich mit einer Vielzahl an Unterstützer:innen für ein Musikschulfördergesetz eingesetzt. Unterstützt durch einen Brandbrief, eine Petition und eine Demonstration sei politischer Druck aufgebaut worden – mit Erfolg: Ab 2025 steigt die Landesförderung um 100 Prozent, 2026 soll das Gesetz in Kraft treten. Damit verbunden sind nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch Standards für Qualität und Teilhabe. Für Richter ist das ein großer und positiver Schritt – und auch ein Beispiel, das andernorts Schule machen könnte.
Bereits jetzt verweisen die 22 öffentlichen Musikschulen in Schleswig-Holstein auf große Fortschritte: 14 Einrichtungen werden laut Richter 2025 das Ziel erreichen, dass 90% der Jahreswochenstunden von festangestellten Lehrkräften unterrichtet werden können. Weitere fünf sieht Richter mit 75 bis 89 Prozent auf gutem Weg, nur drei kleinere Schulen bleiben unterhalb dieser Marke. Für Rhea Richter ist das ein
Meilenstein in der schleswig-holsteinischen Musikschulgeschichte, der nicht nur durch die gemeinsame politische Arbeit im Landesverband erreicht wurde, sondern vor allem auch durch das Engagement vor Ort und kommunale Unterstützung.
Ob mit beispielhaften Bedingungen oder unter Druck durch gesetzliche Vorschriften: Um flächendeckenden Instrumentalunterricht, ein lebendiges Rahmenprogramm und eine breite Ansprache der Bevölkerung durch Musikschulen bereithalten zu können, braucht es Personal. Neben dem Finanzierungsdruck ist der Fachkräftemangel mithin für Musikschulen die zentrale Zukunftsfrage. Angela Bauer berichtet aus Ludwigshafen, dass sie zwar seit Jahrzehnten ausschließlich Festangestellte beschäftige, jedoch personelle Ressourcen fehlten, um alle Kooperationsanfragen erfüllen und die damit verbundenen „aufsuchenden Angebote“ der Musikschule schaffen zu können.
Das Herrenberg-Urteil könnte mit der Verpflichtung zu sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen hier sogar kontraproduktiv wirken. Denn einerseits befürchten mancherorts Lehrkräfte zu Recht, dass sie die Segnungen der Festanstellung überhaupt nicht erlangen werden, weil das Angebot sukzessiv zurückgefahren wird und ihre Honorarvereinbarungen einfach auslaufen. Andererseits geht die pauschale Forderung nach Festanstellungen für nicht wenige freie Musikschullehrkräfte am Bedarf vorbei, wie Katharina von Radowitz anmerkt. Die Flexibilität der Freiberuflichkeit ermögliche es jenen, auch künstlerische Engagements als Musiker:innen anzunehmen und damit ihr berufliches Selbstverständnis abzurunden. Wie Friedrich-Koh Dolge berichtet, ist deswegen der VdM im Rahmen der Arbeitsgruppe Musikschulen bereits in Verhandlungen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, um Ausnahmeregelungen für bestimmte Honorartätigkeiten zu schaffen, etwa für gelegentlichen Unterricht mit Kleinstdeputaten in ländlichen Regionen oder die Beschäftigung von pensionierten Lehrkräften und Studierenden. Denn auch diese Kräfte würden dringend gebraucht.
Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, braucht es somit mehr als eine Lösung für alle – Alexander von Nell schließt an diese Forderung an, indem er dafür plädiert, die Attraktivität des „Arbeitsplatzes Musikschule“ nicht ausschließlich über das Angestelltenverhältnis zu denken. Auch hinsichtlich betrieblicher Mitbestimmung, Möglichkeiten des kollegialen Wissenstransfers, der Arbeitsatmosphäre und Ausstattung müsse man darauf hinwirken, dass Musikschulen zu attraktiven Arbeitgebern werden. Denn sonst gehe es – angesichts eines nur zu offensichtlichen demografischen Wandels bei den Lehrkräften – in Kürze nicht mehr darum, ob sich Familien Musikunterricht leisten könnten, sondern um die fundamentale Frage: „Gibt es überhaupt noch eine reale Person, die mein Kind individuell unterrichten kann – oder müssen wir auf Prof. KI vertrauen?”
Politisch und rechtlich tut sich in verschiedenen Dimensionen einiges, um die Rahmenbedingungen an Musikschulen zu verbessern, doch viele Maßnahmen (von der Personaloffensive bis zur Gesetzesreform) sind noch in Arbeit. Auch wenn Schleswig-Holstein mit dem Musikschulfördergesetz beispielhaft vorangeht – eine bundesweite Lösung fehlt. Angela Bauer und Friedrich-Koh Dolge fordern daher eine gesetzliche Verankerung von Musikschulen als Pflichtaufgabe der Kommunen, mit zusätzlicher Unterstützung durch Bund und Länder. Ein Appell für eine aktive Kulturpolitik, die sich für dieses Thema einsetzt und hoffentlich nicht ungehört verhallt. Auch wenn Schleswig-Holstein hier schon vieles erreicht hat, mahnt Rhea Richter, gerade die kleinen Musikschulen in der Fläche nicht aus den Augen zu verlieren, deren wichtige Arbeit nicht verloren gehen dürfe. Solange diese Prozesse andauern, können und müssen die Einrichtungen selbst Initiative ergreifen. Friedrich-Koh Dolge ist dabei überzeugt von der Kreativität, mit der die Musikschullandschaft bislang sämtliche Hürden hat überwinden können, um trotzdem musikalische Bildung zu gewährleisten. Dabei ist jedoch viel „Aushalten“ auf allen Ebenen gefragt, aber auch Gestaltungsbereitschaft und nicht zuletzt politische Willensbildung, also: Das Kämpfen für Rahmenbedingungen, in denen eine der gesellschaftlichen Realität verpflichtete Musikschule auch arbeiten kann. Katharina von Radowitz und Alexander von Nell sind überzeugt, dass sich der Einsatz lohnt – vor allem wenn Musikschulen noch mutiger ihre Potenziale nutzen, sich in Stadt und Regionen vernetzen, sich als offene, soziale Zentren begreifen, in denen aus musikalischer Praxis Gemeinschaft entsteht und dadurch demokratische Praxis gelebt wird. Dafür heißt es, Wandel zuzulassen und weiterzumachen. Und vor allem: sichtbar zu bleiben.
Quellen:
Julia Jakob ist hauptberuflich als Chefredakteurin
des Magazins von Kultur Management Network in
Weimar tätig. Den deutschsprachigen Kulturbetrieb
spartenübergreifend von allen Seiten zu betrachten,
ist dabei eine ihrer liebsten Beschäftigungen.
Ihr Herz schlägt insbesondere für zukunftsfähige
Arbeitsbedingungen und -strukturen sowie
für gerechtere Teilhabe- und Partizipationsmöglich-
keiten. Dafür macht sie sich auch in verschiedenen
nebenberuflichen Tätigkeiten als Journalistin und
Lektorin sowie Moderatorin stark.
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