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Wie Kultur ihre Kraft entfalten kann
Wir alle erleben sie täglich: die Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaft gerade stehen. Und das sehen wir auch in unserem Handlungsfeld, der Kultur. Die Möglichkeiten und Grenzen einer freien und demokratischen Gesellschaft werden immer wieder aufs Neue diskutiert. Auch die grundsätzliche Relevanz von Kunst und Kultur wird nicht selten infrage gestellt: „Wofür brauchen wir überhaupt noch aus Steuergeldern finanzierte große Staatstheater und Orchester? Was hat das mit mir zu tun? Oder was habe ich davon?“ Mit solchen Fragen sehen wir uns konfrontiert und können mancherorts beobachten, was passiert, wenn diese Fragen auch kulturpolitisch anders als bisher beantwortet werden. Der Konsens, dass Freiheit die Gelingensbedingung der Kunst ist und dass Kultur eine für unsere Gesellschaft grundlegende Bedeutung hat, erodiert in manchen europäischen Ländern schon.
Ich bin der Überzeugung, dass die Künste in einer freien Gesellschaft gerade in Zeiten von Krisen und Umbrüchen einen nicht zu überschätzenden Wert haben, ja sogar essenziell sind. Und wechselseitig ermöglichen erst die Rahmenbedingungen einer freien Gesellschaft Kunst und Kultur, künstlerische Prozesse und kreatives Schaffen. Kunst ist immer auch ein Spiegel laufender gesellschaftlicher Diskurse und ein Aushandlungsraum für aktuelle Fragen. Gleichzeitig bietet sie die Möglichkeit, eine andere Wirklichkeit zu spielen. Sie ermöglicht ein „Was wäre wenn?“ und kann so Reflektion und Diskussion anstoßen. Das macht sie einzigartig, denn nirgendwo sonst als in der Kunst ist das möglich. Und Kultur ist mehr als das, denn sie kann diesen Aushandlungsraum verlassen und in die reale Welt wirken. Diese Wirkmächtigkeit ist eine zweite wichtige Eigenschaft, weshalb wir uns einig sind: Die Künste müssen frei sein von Instrumentalisierung und Einflussnahme, damit sie ihre Kraft entfalten können.
Dennoch sind wir weit davon entfernt, mit den Angeboten der Kultureinrichtungen alle Menschen zu erreichen, was vielleicht mit der Art und Weise zusammenhängt, wie die Künste wahrgenommen und rezipiert werden. Bei der Betrachtung von Ursachen sollten uns vor allem die Gründe interessieren, warum Kulturangebote nicht wahrgenommen werden. In einer kürzlich in Hamburg von der Behörde für Kultur und Medien durchgeführten repräsentativen Befragung gab ein großer Teil der Nichtbesucher:innen von Kultureinrichtungen an, man wolle in seiner Freizeit vor allem eine angenehme Zeit verbringen und Spaß haben. Das wird von mehr als einem Drittel der Befragten offensichtlich nicht mit Kulturangeboten verbunden. Und auch der Wunsch, Inspiration oder Neues durch Kunst und Kultur zu erfahren, ist in dieser Gruppe nicht sonderlich ausgeprägt. „Kultur, das ist unmodern und weit weg von mir und meinem Alltag“ – so das Urteil der überwiegenden Zahl an Nichtbesucher:innen.
Es ist von entscheidender Bedeutung für unsere freie demokratische Gesellschaft, in den Alltag der Menschen hineinzuwirken und so die Kraft der Künste zu nutzen. Denn die Künste haben dafür die Instrumente und die Wirkmächtigkeit, die über Jahrhunderte erprobt sind. Franz Kafka hat einmal geschrieben, ein Buch müsse „eine Axt für das gefrorene Meer in uns“ sein. Diese Kraft benötigen wir dringend in einer Situation, in der weniger Fakten und mehr verhärtete Überzeugungen die Haltung vieler Menschen bestimmen. Die Wirkung der Künste entfaltet sich nicht nur in Besucher:innenzahlen, sondern zeigt sich auch in nachhaltigen Entwicklungen: Welche künstlerische Qualität haben Projekte, wie laden sie zur Partizipation und zur Auseinandersetzung ein, welchen Einfluss haben sie lokal, beispielsweise auf das Quartier oder die Stadtgesellschaft, und welche Impulse senden sie gesamtgesellschaftlich? Gelungene Beispiele gibt es auch hier in Hamburg genug, von der offenen und partizipativen Kulturarbeit der Stadtteilkulturzentren über international renommierte Ensembles wie das Ensemble Resonanz, die immer wieder neue Formate vordenken, bis hin zum umfangreichen Education-Angebot der Elbphilharmonie, das jedes Jahr rund 60.000 Kinder und Jugendliche erreicht.
Diese Offenheit und Entdeckungslust ist eine große Chance für alle. Denn in Zeiten knapper öffentlicher Kassen steht auch die Kulturfinanzierung unter Legitimationsdruck. Die Lebensversicherung für Kultur ist es, auch in stürmischen Zeiten aufzuzeigen, welche entscheidende Rolle sie für die Gesellschaft spielt. Daraus werden sich die Fragen nach Relevanz und Publikumsgewinnung beantworten. Hier ist die Kulturpolitik gefordert, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, ohne künstlerische Freiheiten zu beschränken oder Kunst als Mittel zum Zweck misszuverstehen. Aber hier sind auch Künstler:innen gefordert, neue Wege zu suchen. Das Spannungsfeld ist groß, der Gestaltungsspielraum ebenfalls: Künstler:innen, Bühnen und Veranstaltende, Verwaltung, Kulturpolitik und das Publikum können das zusammen ausloten. Wenn es uns gemeinsam gelingt, hier einen ehrlichen und offenen Dialog zu führen, können wir die Weichen für die Kultur der Zukunft stellen und unsere lebendige Kultur im Sinne der freien Gesellschaft weiterentwickeln.
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Dr. Carsten Brosda studierte Journalistik und Politikwissenschaft in Dortmund und promovierte über „Diskursiven Journalismus“. Von 2000 bis 2005 war er Pressereferent und Redakteur, später Redenschreiber und Referent für Grundsatzfragen im SPD-Parteivorstand. Anschließend wurde er Abteilungsleiter Kommunikation beim SPD-Parteivorstand, ehe er ins Bundesministerium für Arbeit und Soziales wechselte. 2011 wurde er Leiter des Amtes Medien in der Hamburger Senatskanzlei. Seit 2017 ist er Senator für Kultur und Medien Hamburg und seit 2020 Präsident des Deutschen Bühnenvereins. Darüber hinaus ist er in verschiedenen Gremien aktiv, u.a. als Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie.