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Kultur im Zeitalter ihrer Dressur
Wenn ich diese Diskussion verfolge, beschleicht mich das untrügliche Gefühl, dass die darin immer wieder geforderte „kulturelle Teilhabe“ zu einem neuen Modewort bei der Vergabe von Kulturgeldern geworden ist. Man hat nun ein schönes Wort an der Hand, mit dem man eine nicht gestatte Förderung begründen kann: „Das Projekt hat nicht genügend kulturelle Teilhabe, tut uns leid“. Oder man kann sich selbst auf die Schulter klopfen, weil die Projekte, für die man verantwortlich ist, eben super „kulturell teilhabend“ sind.
Fassen solche Begriffe aber wirklich das, um was es bei „Kultur“ gehen sollte? Kultur, die – woran gelegentlich in der Diskussion dankenswerterweise erinnert wird – unbedingt so frei wie möglich sein sollte? Oder geht es in solchen Diskussionen nicht doch eher um die Legitimation von denjenigen, die sich um die Ermöglichung, sprich Finanzierung von Kultur bemühen? Die „Vermittlerinnen“ und „Macher“?
Ständig sind in diesem Gespräch unterschwellig oder offen Kreative in der Kritik, die doch gefälligst mehr daran denken sollen, auch ein größeres Publikum anzusprechen und „nachhaltig“ zu sein. Das setzt anscheinend voraus, dass uns Künstlerinnen und Künstlern die Rezeption komplett egal ist, was ich so nicht unterschreiben würde. Aber warum soll ich mich ständig dafür entschuldigen, dass mein Vorbild eher Wolfgang Rihm als AC/DC ist? Ist es ein Qualitätskriterium für Kunst, wenn sie sich stets größtmögliche Allgemeinverständlichkeit und Vermittelbarkeit zum Ziel setzt? Oder ist Kunst nicht einfach auch mal unbequem, sperrig, verrückt oder ungezogen? Soll Kultur nur ein braves, abgerichtetes kleines Hündchen sein, das Quoten und Agenden erfüllt, weil man sich – ein bisschen naiv – so sehr wünscht, dass sie die Welt doch zum Besseren verändern möge? Ist Kulturpolitik ein Dressurakt?
Das Problem ist: Kunst kann man mit Vergabekriterien nicht erfassen, da das, was man exakt mit Worthülsen beschreiben kann, keine Kunst mehr ist. Denn es ist ein Kriterium von Kunst, dass sie sich Kriterien entzieht, dass sie erst nachträglich kategorisiert oder erklärt werden kann, genauso wie man historische Entwicklungen eher mit etwas Abstand analysieren kann, nicht, wenn man mittendrin steckt. Was man aber sehr wohl analysieren kann, ist die Rolle von Kultur in einer modernen Demokratie, und welche Funktion ihr dabei zugedacht ist.
Um Kultur hat sich inzwischen ein gigantisches Umfeld gebildet, das lauter neue Berufszweige ins Leben gerufen hat. Kein Kulturfestival kann es sich heute leisten, nicht intensiv in z.B. PR, Beratung, Internetauftritt, Vermittlungsprogramme, Jugendarbeit und Social Media zu investieren – das alles gab es überhaupt noch nicht vor wenigen Jahrzehnten. Das alles unter dem Förderungsdruck, sich Themen wie „Relevanz“ oder „Auslastung“ zu stellen und sich auch gegenüber der Kulturpolitik legitimieren zu können.
Es gibt allgegenwärtig Kultur-„Manager:innen“, -„Berater:innen“ und –„Vermittler:innen“ und viele, viele weitere Kulturberufe. Und Institutionen tendieren überall dazu, anzuwachsen. Kulturinstitutionen wie Orchester oder Opernhäuser oder auch der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk sind daher zu immer größeren aufgeblasenen Apparaten geworden, in denen dennoch aus irgendeinem Grund immer mehr Menschen immer härter für weniger Geld arbeiten. Dass zum Beispiel Tänzerinnen und Sänger eines Opernensembles – die jeden Tag auf der Bühne stehen und monatelang und mit nur wenig Urlaub bis spät in die Nacht proben – im Schnitt weniger verdienen als die meisten anderen Mitarbeiter des Hauses, ist eine der seltsamen Blüten, die diese Politik getrieben hat. Und warum kriegen sie so wenig? Weil das Opernhaus gezwungen ist, vollkommen überhöhte Gagen an wenige Stars zu zahlen, die ab und zu mal eingeladen werden müssen, damit die Auslastung stimmt. Und natürlich auch, weil sie ihre riesigen Verwaltungsapparate finanzieren müssen, die jedes Jahr teurer werden.
Was sollte man also tun?
In der Diskussion, in die ich hineinrufen soll, wird folgendes vorgeschlagen (Zitat): „Was massiv gefördert werden muss, ist (der) Austausch zwischen den unterschiedlichen Professionen. Wir müssen sehen, dass Kulturpolitik eine andere professionelle Kompetenz ist als Wirkungsforschung, der Betrieb von Kultureinrichtungen oder das Marketing“. WTF?
Da bin ich gleich deprimiert und ahne weitere Gremien voraus, in denen „massiv gefördert“ Kulturpolitiker:innen, Wirkungsforschungsexpert:innen, Kultureinrichtungsexpert:innen und Marketingexpert:innen zusammen kommen müssen, um die „kulturelle Teilhabe“ zu garantieren. Also noch mehr drumherum um die Kultur, noch mehr Worte, noch mehr „Austausch“, noch mehr politische Agenda.
Man kann sicher sein, dass selbst bei der fleißigen Umsetzung eines solchen Vorschlags nur ein paar Jahre ins Land gehen müssten, bis man wieder etwas Anderes in der Kulturermöglichungsebene findet, was in irgendeiner Form „massiv gefördert“ werden muss, höchstwahrscheinlich auf Kosten der Kultur selbst. Es ist vielleicht ein Fass ohne Boden.
Nicht, dass wir uns falsch verstehen – mir ist absolut bewusst, dass eine komplexe Zeit auch eine komplexe Kultur ausbildet. Mir ist klar, dass es kein „Zurück“ gibt in simplere Zeiten des Wirtschaftswunders, in denen Menschen so ausgehungert nach Kultur waren, dass man nicht ständig darüber sprechen musste, unter welchen Umständen sie ermöglicht wurde. Und ich möchte auch nicht pauschal über engagierte Menschen richten, die sich in oben beschriebenen Funktionen ernsthaft und mit guten Absichten aufopferungsvoll für Kultur einsetzen, denn diese gibt es natürlich. Selbstverständlich gibt es z.B. Dramaturg:innen, Kulturmanager:innen, Vermittler:innen und Funktionäre die tolle Arbeit machen und einen wichtigen Beitrag zur Kultur leisten.
Es wäre mir aber wichtig, den Blick auf bestimmte Selbstläufermechanismen zu schärfen, die im Kulturbereich oft für eine gewisse Hypertrophie sorgen. Durch die Wucherung von Erwartungshaltungen ist es dazu gekommen, dass Kunst immer mehr Interessen erfüllen und quasi alles stemmen soll. Sie muss z.B. grundsätzlich vorzeigbar sein, ästhetisch auf der Höhe der Zeit, unglaublich innovativ, aber auch unglaublich publikumswirksam, sie muss spektakulär sein, damit möglichst viele Medien darüber berichten, aber auch nicht oberflächlich, damit das Feuilleton nicht schimpft. Kunst muss ein „neues“, möglichst junges Publikum ansprechen, darf aber auf keinen Fall die alten Abonnenten vergraulen, die man nicht verlieren will. Wie soll das alles bitte gleichzeitig gehen, und dann am besten noch in einem Werk?
Viele Künstler:innen verbringen inzwischen mehr Zeit mit dem Schreiben von wohlfeilen Anträgen, die möglichst alle diese Aspekte erfüllen, als mit der tatsächlichen künstlerischen Arbeit. Und viel Hohles wird gefördert, das einfach nur geschickt mit Worten jongliert, um bestimmte positiv konnotierte Triggerpunkte abzuhaken. Um zum Beispiel eine Jury zu beeindrucken, die ebenso gezwungen ist, ihre Auswahl zu legitimieren.
Hätte angesichts dieser immer ausdifferenzierteren Zwänge zum Beispiel eine Ingeborg Bachmann noch eine einzige Zeile zustande gebracht (Spoiler: ganz sicher nicht)? Hätte ein Bach die Kunst der Fuge oder das Wohltemperierte Klavier hinbekommen, wenn er diese Werke vor einem Fördergremium nach Fragen der Auslastung oder „kultureller Teilhabe“ hätte legitimieren müssen?
Mir ist bewusst, dass diese Beispiele leicht hinken, denn beide Künstler hatten durchaus zu Lebzeiten ebenso mit Zwängen und Abhängigkeiten zu tun und fanden die Freiräume für ihre Kunst auch nicht auf der Straße. Kunst hatte es immer schwer und passte sich immer den Umständen an.
Dennoch ist es gut, sich ab und zu einmal daran zu erinnern, um was es eigentlich geht am Ende des Tages: um Kunst. Und die verlieren wir manchmal aus den Augen, wenn wir ihr ständig vorschreiben wollen, wie sie zu sein hat, und wie sie Checklisten abhaken muss, um überhaupt existieren zu dürfen.
Noch einmal: es geht um… Kunst!
Frei von irgendeiner Agenda, frei von irgendeinem Ziel, dennoch nicht weltfremder Selbstzweck, sondern Statement, Ausblick in die Zukunft, Chronik der Gefühle einer Zeit. Ein wilder Raum für Ideen, nicht gegängelt von einer Ideologie oder Agenda.
Und dies vergessen wir in diesen politisierten Zeiten oftmals. Die meisten Kunstschaffenden (auch ich) machen sich Sorgen um Themen wie Rechtsruck und Populismus. Die meisten Kunstschaffenden wollen – ist doch klar – Gleichstellung, Toleranz und Offenheit. Ich sage daher meinen Studierenden, dass es in diesen Zeiten fast unmöglich ist, „unpolitische“ Kunst zu machen.
Aber Kunst muss das „Politische“ nicht am Hemdsärmel tragen, um würdig zu sein. Allein schon Künstler:in zu sein, ist ein politisches Statement, da sich endlose Widerstände gegen das Künstlerdasein aufbauen. Dies war auch zu allen Zeiten in der Geschichte der Menschheit so. Aber es gibt im Moment die Tendenz, Kunst zunehmend zu überinstrumentalisieren, ihr spezifische Aufgaben zu stellen, die sie erfüllen „muss“, um angeblich relevant zu sein. Und da graut es mir.
Das Problem dabei: Kultur wird zur Erfüllungsgehilfin von Ideologien, und das ist die Rolle, in der ich Kunst sehr ungern sehe, da wir um die Gefahren einer solchen Instrumentalisierung wissen. Wollen Menschen ernsthaft zuallererst einmal das Erlebnis einer „gesellschaftspolitischen und ideologischen Agenda“ (Zitat aus dieser Diskussion), wenn sie in ein Konzert gehen? Bei solchen Sätzen gruselt es mich sofort, denn sie bestätigen ja quasi Vorwürfe aus schlimmster Schwurbel- und Verschwörungsecke, die dem angeblichen „Great Reset“ eben dieses unterstellen: eine Agenda verbreiten zu wollen. Und was mir auch Angst macht? Wir schaffen momentan in guter Absicht Strukturen, die Cancel Culture und übergroße Reglementierung fördern. Aber es braucht dann nur ein paar bestimmte Wahlsiege, um solche Strukturen personell auszutauschen und auf eine Weise zu instrumentalisieren, die ganz schrecklich ist.
Ich weiß daher auch nicht, ob Kunst zuallererst einmal ein „Aushandlungsprozess“ sein soll, „der regelmäßig stattfinden muss“ (weitere Zitate aus dieser Diskussion). Warum „muss“ der stattfinden? Und warum „regelmäßig“? An anderer Stelle im Gespräch wird gefordert, dass Künstler sich dringend vornehmen sollten, mit ihrem Werk „intellektuelle Aufrüstung, Mündigkeit, Kritikfähigkeit und das Denken“ zu fördern, um damit „notwendige Transformationsprozesse“ in der Gesellschaft einzuleiten. Oh Gott, was für eine Verantwortung! Da erstirbt in mir sofort jegliche Inspiration. Wenn ein Stadttheater auf seine Plakate schreiben würde, dass man dort jetzt „intellektuell aufgerüstet“ wird, würden alle einen großen Bogen darum machen, und das zu Recht. Fragt man eigentlich auch manchmal das Publikum, um dessen Teilhabe man buhlt, wie es solche Begriffe findet?
Braucht die Gesellschaft die Kunst, um sich zu transformieren? Oder ist es nicht vielmehr die Kunst, die solche Transformationsprozesse – durchaus auch aktiv -begleitet, da sie einfach stattfinden, ganz ohne, dass sie sich irgendjemand in irgendeinem Kulturamt ausgedacht hat?
Das Missverständnis ist vielleicht, die Kultur getrennt von der Gesellschaft zu sehen, und sie so zu betrachten, als sei sie der Gesellschaft etwas schuldig. Denn am Ende gibt es diese Trennung überhaupt nicht:
Es ist die Gesellschaft selbst, die die Kunst macht, da aus ihr die Persönlichkeiten entstehen, die dann den Drang verspüren, den Zustand dieser Gesellschaft künstlerisch zu kommentieren.
Um diesen grundsätzlichen Drang müssen wir uns keinerlei Sorgen machen, wir müssen nur dafür sorgen, dass er sich möglichst frei entfalten kann. Und dabei würde vielleicht ein wesentlich direkterer und pragmatischer Zugang besserer funktionieren als zu viele Worte.
Denn vieles, was in diesem Land als wirklich wichtige Kulturarbeit stattfindet, ist vollkommen unspektakulär und kommt in solchen Diskussionen nie vor. Zum Beispiel mein Freund Jobst Liebrecht, der im Problembezirk Berlin-Marzahn unter schwierigsten Umständen ein Jugendorchester mit Kindern leitet, die ansonsten nie mit klassischer oder zeitgenössischer Musik in Berührung kämen. Diese Kinder kann er nicht mit „Aushandlungs“- oder Transformationsprozessen“ locken, auch nicht mit ideologischen Diskussionen. Er kann sie aber mit Musik an sich begeistern. Und diese ganz praktische, von Tag zu Tag mit individueller Leidenschaft gefüllte Arbeit wird vielleicht im Leben dieser Kinder mehr zum Positiven verändern als die vielen Worte, die wir in Diskussionen wie dieser verlieren. Das ist für mich echte „kulturelle Teilhabe“, die wesentlich mehr bewirkt, als irgendwelche Ideologien zu erfüllen. Nachhaltiger ist das auch.
Denn am Ende des Tages zählen Erlebnisse und Werke, nicht die Worte, die wir darum machen.
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Moritz Eggert ist Komponist und Pianist und stand auch als Dirigent, Schauspieler und Sänger auf der Bühne. Er studierte in Frankfurt, München und London. Schwerpunkte seines kompositorischen Schaffens sind Musiktheater, Vokal- und Instrumentalmusik sowie konzeptionelle und performative Werke. Dem typischen Bild „seriöser“ akademischer Musik setzt er Ironie, Parodie oder Satire entgegen und lotet dabei oft Extreme aus. Als Blogger (Bad Blog of Musick) und Autor ist er eine kritische Stimme in der zeitgenössischen Musik und zu aktuellen kulturpolitischen Themen. Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Zyklen „Hämmerklavier“ und „Neue Dichter Lieben“.