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Exzellente Ausbildung zwischen Anspruch und Arbeitsmarkt
Es ist ein kaltnasser Samstagabend in Berlin. Im Theater im Delphi mit abgeblätterten Wänden und retroromantischem Charme steht das überwiegend junge Publikum plaudernd an der Bar und im Zuschauerraum, Eintrittskarten werden nicht kontrolliert. Die Atmosphäre ist warm und herzlich. Auf der Bühne spielen sich einige Musiker:innen vom ensemble reflekto ein. Ohne den gewohnten Auftrittsapplaus geht es los: Die Cembalistin Elina Albach und das Orchester spielen Musik aus einer Spanne von mehreren Jahrhunderten und Epochen, die Kompositionen gehen ineinander über, in der zweiten Hälfte steht sinfonische Musik in großer Besetzung von Ethel Smyth auf dem Programm.
Das ensemble reflektor spielt ohne Dirigent:in, die studierten oder studierenden Musiker:innen vertrauen in ihr demokratisches, nicht-hierarchisches Konzept. Da bleibt, vor allem in großer Besetzung, die Präzision schon mal auf der Strecke. Geht das Spiel ohne Dirigent:in also auf Kosten der Exzellenz? Joosten Ellée, künstlerischer Leiter und erster Geiger vom ensemble reflektor sieht das anders: „Der Mut zum Scheitern und die Bereitschaft, ohne Sicherheitsgurt auf der Bühne alles zu geben: Das ist für mich das Streben nach Exzellenz.“ Mit seinem Orchester möchte Ellée vor allem eine authentische und intensive Performance auf der Bühne erreichen, mit Drive und Richtung – auch auf die Gefahr hin, dass es wirklich crasht.
Diese Idee steht im Widerspruch zu den tatsächliche Anforderungen in Wettbewerben oder Probespielen, die durchaus über Karrieren entscheiden. Auf diese durch technische Perfektion gekennzeichnete Exzellenz arbeiten Studierende an Musikhochschulen hin, vor allem, wenn sie ihre Zukunft ausschließlich in der künstlerischen Praxis sehen. Wer noch dazu bei prestigeträchtigen Professor:innen studieren darf, durch die „Kaderschmiede“ geschliffen wird, in Wettbewerben glänzt und die mediale Aufmerksamkeit auf sich zieht, greift bereits nach den Sternen.
Doch an der Spitze ist es eng, weil viele Musiker:innen ihren Platz dort suchen. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2019 ergab, dass deutsche Musikhochschulen zu viele Opernsänger:innen für immer weniger Arbeitsplätze ausbilden. Laut unisono-Statistik (2022) ging die Zahl der Planstellen in öffentlich finanzierten deutschen Berufsorchestern zwischen 1992 und 2018 um knapp 20 % zurück und ist seither stabil. Gleichzeitig stieg laut Informationen des Deutschen Musikinformationszentrums die Anzahl der Studierenden allein im Bereich der Instrumental- und Orchestermusik vom WS 2000 / 2001 zum WS 2020 / 2021 um 11%, im Fach Gesang sogar um 48%. Zukunftsträume platzen, wenn sich die Absagen von Orchestern oder Opernhäusern häufen, wenn sich das Gefühl breitmacht, dass es für die herausragende Spitze doch nicht gereicht hat, wenn die finanzielle Absicherung nach dem Studium auf dem Spiel steht oder der Traum nur noch nebenberuflich weitergelebt werden kann. Nicht selten zeigen sich dann auch Folgen für die mentale Gesundheit.
Mangelnde Wertschätzung belastet die Seele, aber über das individuelle Leid hinaus sieht Joosten Ellée in der einseitigen Orientierung an einem konservativen Verständnis künstlerischer Exzellenz vor allem eine „kolossale Zeitverschwendung von viel zu vielen Menschen“. Damit spricht er ein systemisches Problem an. Über die rein instrumentale Exzellenz werde es in Zukunft immer schwieriger, Kultur aktiv mitzugestalten. Als künstlerischer Leiter vom ensemble reflektor und von PODIUM Esslingen sieht Ellée die Zukunft der Exzellenz vor allem in der Verbindung von künstlerischer Praxis und gesellschaftlicher Verantwortung, in der Erweiterung des eigenen Horizonts jenseits des Werkkanons aber auch in der Ausbildung eines Rüstzeugs zum eigenen Veranstalten. Kreative künstlerische Arbeit umfasse dabei neben dem Instrumentalspiel auch Ideen zu Lichtkonzepten, Marketing oder Programmkuratierung – kreative Disziplinen also, „die Musiker:innen dazu ermächtigen würden, ihre eigenen Ideen und ihre eigene Kreativität wirklich darstellen zu können“, erklärt Ellée.
„Ich gehe davon aus, dass jemand, der an der Hochschule studiert, per se Exzellenz mitbringt und ein sehr guter Musiker, bzw. eine sehr gute Musikerin ist“, findet Julia- Sophie Kober. Sie ist aktive Sängerin, Karrierementorin für Musiker:innen und ehemalige Leiterin des Career Centers der Hochschule für Musik und Theater München. Diese Exzellenz allein reiche jedoch nicht, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können, so Kober. Eine Festanstellung auf Lebenszeit ist heutzutage die Ausnahme, Zeitverträge und Freiberuflichkeit die Regel. Sie beobachtet, dass sich viele Musiker:innen nach dem Studium allein gelassen fühlen. Es sei deshalb die Aufgabe der Musikhochschulen und Career Center, die künstlerisch exzellent ausgebildeten Studierenden so zu unterstützen, dass sie für den Beruf gewappnet sind – und zwar passend zu ihren individuellen Fähigkeiten und Zielen. Das erfordere wiederum eine Reihe von zusätzlichen „unternehmerischen“ Fähigkeiten, erklärt Kober: „Wie kommuniziere ich? Wie bin ich sichtbar? Wo ist mein Platz und wie komme ich dorthin?“ Diese zusätzlichen Kompetenzen erscheinen auf den ersten Blick als Mehrfachbelastung, führen perspektivisch jedoch zur Entlastung: „Es ist eine Chance, langfristig in diesem Beruf gesund zu bleiben.“
Geradezu als Siegel von Exzellenz sehen viele Musikstudierende nach wie vor das Orchester. Doch auch für Beat Fehlmann, Intendant der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, geht der Anspruch an Exzellenz über das rein künstlerische Niveau hinaus. Für ihn sollten Orchestermusiker:innnen neben der künstlerisch-technischen Exzellenz bestenfalls ebenso „freidenkende Problemlöser:innen sein mit Sinn für Relevanz innerhalb der Gesellschaft.“ Doch der Blick auf die Probespielpraxis zeige, dass Personal nach wie vor „extrem instrumental basiert“ ausgewählt werde: „Ich glaube, wir haben da einen Weg vor uns, das zu verändern.“ Neben den vermittelnden und sozialen Fähigkeiten seien in einem durchhierarchisierten System wie dem Orchester Führungsqualitäten gefragt, erklärt Fehlmann. In Probespielen werden diese Kompetenzen in der Regel jedoch nicht geprüft, ebenso wenig weitere Soft Skills, die für den Berufsalltag im Orchester erforderlich seien.
Um diese Lücke zu schließen, hat die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz in der Spielzeit 2019/2020 die Ernst-Boehe-Akademie ins Leben gerufen. Die auf zwei Jahre angelegte Ausbildung bereitet ausgewählte Stipendiat:innen auf eine Laufbahn als Stimmführer:innen im Orchester vor. Das Augenmerk liegt neben der künstlerischen Exzellenz auf Führungs- und Konfliktmanagement, Kommunikation, Vermittlung und transkultureller Arbeit. Durch interne und externe Weiterbildungen verfolgt die Ernst-Boehe-Akademie damit eine Mission: „Die Orchestermusiker:innen der Zukunft sind umfassende und erfolgreiche Botschafter:innen für Musik.“
Künstlerische Exzellenz zwischen Anspruch und Arbeitsmarkt erfordert also einen Mentalitätswandel für Studierende und Dozierende gleichermaßen. Die gnadenlose Konfrontation mit der Realität, die Auseinandersetzung mit den Grenzen einer exzellenten Spitze können im ersten Schritt desillusionieren – die Erwartungen an die eigene (rein künstlerische) Exzellenz im wahrsten Sinne „ent-täuschen“. Noch immer haben Solo-Karrieren in vielen Augen mehr Prestige als Karrieren im Opernchor oder im pädagogischen Bereich. Der Anspruch an die eigene Perfektion ist klassischen Musiker:innen dabei ebenso eigen wie die Angst vor Fehlern und dem vermeintlichen Scheitern. Ähnlich wie im Leistungssport ist außerdem nach wie vor der Glaube weit verbreitet, dass berufliche Exzellenz nur mit ungeteiltem Fokus auf das Instrument möglich sei. Helfen könnte dabei möglicherweise eine neue Perspektive auf die Ethymologie des Wortes „Exzellenz“ (lat. „excellere“ = herausragen): Herausragende Leistung erfordert demnach eine individuelle Profilbildung, eine Suche nach den eigenen Kompetenzen und Interessen, das Erspüren von Nischen und innovativen Ideen – eine individuelle Exzellenz also, die aus der breiten Masse
herausragt.
Elisabeth Hahn arbeitet als freiberufliche Musikjournalistin. Sie studierte Klavier und Musikwissenschaften in Lübeck, Frankfurt und Berlin und promoviert seit 2023 an der Universität Hamburg über den tschechischen Komponisten Miloslav Kabeláč. Als Moderatorin und Autorin arbeitet sie u.a. für Deutschlandfunk Kultur und SWR2 und ist Mitbegründerin des Klassik-Podcasts „Generation Einheit“.
Der Artikel erschien im NJO-Magazin Best of #10 „Exzellenz!“. Abrufbar unter Best of #10